Running the Streets: Martha Cooper’s New York State of Mind

  • by Stefan Fellechner

Autorin: Miss Rosen

Für das URBAN NATION Museum

Freiheit, Kreativität und Innovation – das sind die wichtigsten Merkmale von Martha Coopers Reise um den Globus innerhalb der letzten 60 Jahre. Cooper entstammt einer Familie, in der es eine ganze Reihe starker, unabhängiger Frauen gab. Allen voran die Großtante mütterlicherseits, Henrietta Szold: eine bekannte Aktivistin, die in die American Women’s Hall of Fame aufgenommen wurde. Cooper wuchs also in einer Familie von Feministinnen auf, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen.

Cooper wurde bereits im zarten Alter von fünf Jahren eine große Portion Autonomie zugestanden, als ihre Mutter ihr beibrachte, allein eine Meile durch ihre Heimatstadt Baltimore zum Kindergarten zu laufen. „Meine Mutter zeigte es mir am ersten Tag“, sagt Cooper. „Am nächsten Tag folgte sie mir mit einigem Abstand, um sicherzugehen, dass ich alles richtig mache, und das war’s dann. Ich bin sehr frei aufgewachsen.“

Martha Cooper’s Wagemut

1965 erreichte Coopers Abenteuerlust einen neuen Höhepunkt. Nachdem sie ihre Arbeit im Friedenskorps abgeschlossen hatte, begann sie an der Universität Oxford Ethnologie zu studieren. Im Zuge dessen unternahm sie die Reise ihres Lebens, als sie allein mit dem Motorrad von Bangkok nach London fuhr. Nach ihrem Abschluss kehrte sie in die USA zurück, um Artefakte im Peabody Museum of Natural History in Yale zu katalogisieren. Bald langweilte es Cooper, hinter einem Schreibtisch zu arbeiten. Sie sehnte sich danach, wieder direkt vor Ort tätig zu sein.

Martha Cooper's New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀
Martha Cooper’s New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀

Entschlossen, ihrer Liebe zur Fotografie ein Leben lang nachzugehen, wurde Cooper die erste weibliche Fotopraktikantin beim National Geographic. Kurz darauf nahm sie einen Job bei der The Narragansett Times an. Doch das Leben an den Küsten von Rhode Island war für ihren Geschmack viel zu beschaulich. 1975 zog Cooper nach New York City und versuchte Zeitungsfotografin zu werden. Nach Jahren, in denen weiße New Yorker aus vernachlässigten Stadtgebieten weggezogen waren, stand die Stadt am Rande des Bankrotts. Vermieter heuerten Brandstifter an, die ihre Grundstücke abfackeln sollten, um Versicherungspolicen zu kassieren – und legten damit ganze Stadtviertel in Schutt und Asche.

Martha Cooper's New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀
Martha Cooper’s New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀

Martha Cooper’s New York

Die dekadente und doch heruntergekommene Stadtlandschaft wurde sich selbst überlassen. Dadurch wiederum wurde eine lebendige kulturelle Oase geschaffen, in der alles möglich war. Ganz in ihrem Element hatte Cooper 1977 als erste weibliche Fotografin bei der New York Post großen Erfolg. Mit einem Presseausweis, der es ihr ermöglichte, Polizeigrenzen zu überqueren, und mit Nummernschildern an ihrem Auto, die es ihr erlaubten, überall und jederzeit zu parken, fuhr Cooper während ihrer Arbeitseinsätze in einem ramponierten Honda Civic durch die „Five Boroughs“. Dabei hatte sie auch keine Skrupel, mitten auf der Straße einen U-Turn zu machen, um für eine schnelle Aufnahme aus dem Auto zu springen.

Ausgestattet mit einem Funkgerät, das mit dem City Desk verbunden war, fotografierte Cooper alles: von Verbrechen bis hin zu Berühmtheiten. Aber sie erkannte, dass die Pressefreiheit in einer gesetzlosen Stadt nicht ohne Folgen war. „Man schickte mich mit einem Reporter zu einem Drogensupermarkt auf der Avenue A“, erinnert sie sich. „Wir sahen, wie all diese Leute in einem verlassenen Gebäude ein und aus gingen, und ich dachte: ‚Du willst, dass ich da reingehe und ein Foto mache – bist du verrückt?'“

Martha Cooper's New York State of Mind
Martha Cooper’s New York State of Mind photo © Martha Cooper⁠

Der Blick fürs Skurrile

Neben diesen Einsätzen fertigte Cooper „Weather Shots“ an. Dabei handelt es sich um eine Serie von Einzelbildern, die als ganzseitige Abbildungen in der Zeitung erscheinen. Später wurden diese in dem Buch New York State of Mind veröffentlicht. In einer von Extremen getriebenen Stadt war das Wetter die perfekte Metapher, um zu veranschaulichen, wie zäh, widerstands- und anpassungsfähig ihre Bewohner waren. Coopers Blick für die skurrilen Facetten des Stadtlebens spiegelte sich in den typischen Szenen von alten Männern wider, die an den Kartentischen des Blocks Domino spielten. Er zeigte sich auch in den Fotografien von Kindern, die sich an einem schwülen Sommertag in einer Fontaine von kühlem Wasser tummelten, die aus einem offenen Hydranten sprudelte. Und er findet sich in der Aufnahme eines unerschrockenen New Yorkers, der ein Paar Skier anzog, um die schneebedeckten Straßen zu überqueren.

Martha Cooper's New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀
Martha Cooper’s New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀

Die Herrscher der Straße

Gleichzeitig dokumentierte Cooper eine goldene Ära, in der Kinder über die Straßen herrschten. Diese Fotoreihe wurde später in dem Buch Street Play veröffentlicht. Das Projekt begann, nachdem Cooper Haiti besucht und Kinder gesehen hatte, die aus Blechdosen Autos bauten. Neugierig kehrte sie nach New York zurück, um zu sehen, ob in der Lower East Side, einem lebhaften, wenn auch heruntergekommenen Viertel unweit der Innenstadtzentrale der Post, etwas Ähnliches passierte. Die auf sich allein gestellten Kinder in Coopers Fotos waren furchtlos. Sie sprangen von Feuerleitern auf verlassene Matratzen und klammerten sich hinten an Bussen fest, um kostenlos mitzufahren. Sie erfanden Spiele und fertigten selbstgemachtes Spielzeug, inmitten von mit Schutt übersäten Grundstücken. „Die Kinder hatten viel Freiheit und es gab viele Orte, die nicht eingezäunt waren“, sagt Cooper. „Es erinnerte mich an meine eigene Kindheit.“

Martha Cooper's New York State of Mind
Martha Cooper’s New York State of Mind, photo © Martha Cooper⁠⠀

Trip Down Memory Lane

Kürzlich nahm Harlem Slim, ein New Yorker Blues-Musiker, Kontakt zu Cooper auf. Er fragte, ob er ihr Foto einer Gruppe von Kindern, die auf einen Maschendrahtzaun klettern, als Cover für sein nächstes Album verwenden könne. Dabei erwähnte er, dass er eines der Kinder auf dem Bild sei. Cooper sagte, sie würde ihm die Erlaubnis geben, wenn er im Gegenzug seine Erinnerungen an diesen Tag mit ihr teilen würde. In einer E-Mail beschreibt Harlem Slim diesen Moment, deutlich erinnert er sich an die Zeit in einem „Day Camp“. Gemeinsam mit einem etwas älteren Teenager als Aufsichtsperson durften die Kinder die Stadt erkunden:

„In so vielen Stadtvierteln, von der Upper West bis zur Lower East Side, gab es diese eingezäunten Grundstücke voller Bauschutt. Sie wurden zu unserem Spielplatz, gebaut (oder zerstört), um unsere Kreativität anzuregen“, erinnert sich Harlem Slim. „Zu der Zeit, als dieses Foto gemacht wurde, war ich ein sehr schüchternes Kind und wollte unbedingt wie die coolen großen Kinder sein. Ich wusste, wenn ich es bis zur dritten Zaun-Reihe schaffe, würden sie mich aufnehmen – also schob ich mich vorwärts, ohne nach unten zu schauen. Ich liebe an deinem Foto besonders, dass es meinen Moment des Bereuens und der Angst perfekt einfängt. Ich glaube nicht, dass sonst irgendjemand das so sieht, aber das ist das Schöne an einem Foto. Ich habe es bei diesem Aufstieg nie ganz nach oben geschafft. Ich begann irgendwann wieder runterzuklettern und zwang die Kinder unter mir, dasselbe zu tun. Es war nicht in meiner Liga, wie die großen Kinder rüberzuklettern, und ich hatte gesehen, was für Folgen diese Dummheit mit sich bringen konnte, also ging ich an diesem Tag auf Nummer sicher.“

Als sich Martha Coopers Leben veränderte

Die Zeit, in der Cooper diese Fotografien machte, veränderte ihr Leben, als sie einen Tauben züchtenden Jungen namens Edwin traf. Unter dem Namen er außerdem Graffiti. Cooper, bereits ein Fan von politischen Graffiti, war nicht in der Lage, die Schrift an der Wand nicht entziffern – bis Edwin sie einweihte.

Martha Cooper's New York State of Mind: 180th Street platform, Bronx, NYC 1980 photo © Martha Cooper⁠⠀
180th Street platform, Bronx, NYC 1980 photo © Martha Cooper⁠⠀

„Es war wie der Stein von Rosette“, sagt Cooper. „Er erklärte: ‚Mein Name ist HE3: hier ist er in meinem Notizbuch, und ich bringe ihn an die Wand. Ich dachte: ‚Oh, ich verstehe. Das sind Namen.‘ Das war eine Offenbarung: Man konnte Tags erkennen. Ich hatte großes Glück, dass HE3 DONDI kannte, denn er sagte: ‚Ich kann dich einem König vorstellen.'“

In der Folge dieser Begegnung wurde Geschichte geschrieben. 1980 kündigte Cooper ihren Job bei der New York Post, um Vollzeit Graffiti zu dokumentieren. Sie dachte nicht einen Augenblick daran, dass ihre Arbeit die Welt verändern würde.

Photos by Martha Cooper