TRANSKULTURALITÄT IM RAUM – Fresh A.I.R. im Austausch mit Studierenden der RWTH Aachen

  • by Geneviève Debien

Städte sind Orte der Migration, des Ankommens, Bleibens und Gehens. Sie bieten Räume, in denen Menschen mit ihren kulturellen Identitäten und individuellen Lebensgeschichten aufeinandertreffen, sich miteinander verändern und Neues entstehen lassen. Das formt im Umkehrschluss die Wahrnehmung und Aneignung von Stadträumen. Der Stadtraum ist damit Anlass, Anzeiger und Austragungsort von Transkulturalität.

Diesen Themenkomplex umfasste auch die Ausstellung „Reflecting Migration“ des sechsten Jahrgangs des Artist in Residence-Stipendienprogramms Fresh A.I.R., dessen Leitung Janine Arndt Studierende der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes unter Prof. Dr.-Ing. Carola Neugebauer der RWTH Aachen dazu einlud, sich mit den Arbeiten der 12 internationalen Fresh-A.I.R.-Kunstschaffenden auseinanderzusetzen und Impulse für eigene Forschungsthemen aufzunehmen.

In den aufeinanderfolgenden Winter- und Sommersemestern 2021/22 widmeten sich die Aachener Masterstudierenden des Seminars Transkulturalität, Migration und Stadt individuell gewählten Themen und forschten dazu im Austausch mit den Fresh A.I.R.-Residenzlern. Mit diesen trafen sie sich in zwei Präsenz-Workshops im Herbst 2021 und Frühjahr 2022 in Berlin, kurz vor Eröffnung der Ausstellung „Reflecting Migration“ in den Räumen der Stiftung Berliner Leben.

Zielsetzung der interdisziplinären Lehrformate war die zweigleisige – wissenschaftliche und künstlerische – Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich höchst relevanten und den Stadtraum prägenden Prozessen der Migration und Transkulturalität: Die Studierenden des Wintersemesters führten dazu erstmals eine selbst konzipierte Primärforschung nach wissenschaftlichen Standards durch und wurden anschließend von Janine Arndt angeleitet, ihren Forschungsprozess bzw. dessen Ergebnisse künstlerisch zu reflektieren.
Die Studierenden des Sommersemesters griffen diese Ergebnisse auf und entwickelten daraus mit Unterstützung von Masterstudierenden der Architektur eine Ausstellung, die am 13. und 14. Juni 2022 im REIFF Foyer in Aachen zu sehen war. Die Werkschau rückte die Präsentation der studentischen Arbeiten – wissenschaftliche und künstlerische – in den Fokus und machte zugleich die Arbeit von Fresh A.I.R. #6 an der Universität in Aachen sichtbar.

Besuch der Studierenden bei Fresh A.I.R. und darauffolgende Ausstellung im Reiff Foyer in Aachen

Studierende des Forschungsfeldes „Fresh A.I.R.: Migration, Transkulturalität und Stadt“ (Wintersemester 2021/22): Sophia-Franziska Bouveret, Lena Maria Castrup de Arnedo, Mohammad Nabeel Jamal, Friederike Macher, Teresa Schreer, Marina Sedda und Katharina Stommel

Studierende des Seminars „Migration, Transkulturalität und Stadt – die Ausstellung“ (Sommersemester 2022/23): Ann-Kristin Bierotte, Svenja Dornik, Simon Jochade, Julia Kasparek, Hannah Lemler, Charles David Lueke und Marica Vitt

Betreuerinnen in beiden Semestern: Prof. Dr.-Ing. Carola Neugebauer und Hannah Nowak

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Sophia-Franziska Bouveret forschte zum Thema „Angsträume in der Stadt“ und setzte sich dafür mit der Wahrnehmung von Angsträumen auseinander. Im Zentrum der Arbeit stand die Frage, ob es Unterschiede zwischen Angsträumen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund gibt und ob dabei auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. In ihrer Studie arbeitete die Autorin zunächst Grundlagen aus der Literatur auf und stellte dar, wie Angsträume entstehen und welche sozialen wie stadträumlichen Faktoren dazu beitragen. Anschließend führte sie Leitfadengestützte Interviews mit fünf Personen durch, welche ihre Angsträume in Aachen schilderten. Die Arbeit zeigt zum einen, dass Angsträume subjektiv wahrgenommen werden, und zwar abhängig von Geschlecht, Herkunft und Alter. Zum anderen wird deutlich, dass migrantisch geprägte Stadtquartiere nicht zu den Angsträumen Aachens gehören und Menschen mit Migrationshintergrund vor allem Räume fürchten, in denen ihnen bereits Rassismus begegnete. Das Kunstprojekt „Angsträume“ zeigt die Portraits der fünf Gesprächspartner*innen von Sophia-Franziska Bouveret. Die Portraits zeigen charakteristische Züge der Personen und markieren die spezifischen Bereiche, welche für die Wahrnehmung der Angsträume zentral waren.

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Teresa Schreer setzte sich in ihrer Forschungsarbeit mit Erinnerungsstücken auseinander, welche internationale Studierende als Erinnerung an ihre Heimat mit nach Aachen brachten. Sie legte den Fokus dabei auf die Analyse des Objekt-Raum-Bezuges, also auf die Frage, an welchen Orten im privaten Wohnraum diese Souvenirs aufbewahrt werden und warum. Die Autorin verglich dafür die Platzierung im Wohnraum, welche die Objekte des Andenkens in der verlassenen Heimat erhielten mit denen, welche Ihnen in Aachen gegeben wurden. Aus diesen Objekt-Raum-Bezügen rekonstruierte sie die Bedeutungsverschiebungen, welche die Objekte erfuhren und zog Rückschlüsse auf das individuelle Erinnern der Studierenden. Teil der Forschungsarbeit war die intensive Auseinandersetzung der Autorin mit vorhandener Literatur: Sie beschäftigte sich mit dem Konzept der Heimat, dem Heimweh und der Funktion von „Souvenirs“ als Träger von Erinnerungen. Aufbauend auf diesem Literaturstudium führte Teresa Schreer Leitfadengestützte Interviews mit vier Gesprächspartner*innen. In der Ausstellung stellt das Kunstprojekt die Souvenirs und die Interviewpartner*innen in ihren privaten Wohnräumen in Form von Fotografien vor. Die Fotografien sind in den Ausstellungsboxen an verschiedenen Positionen fixiert, welche die originären Platzierungen im Raum markieren.

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Friederike Macher geht in ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit der Frage nach: „Kann ein Freund*innenbuch zum rassismuskritischen Denken beitragen?“ Ihr Projekt ist ein Freund*innenbuch, welches im Freundes- oder Bekanntenkreis ausgefüllt wurde und weiter ausgefüllt werden soll. Es geht vom Kernbefund aktueller Rassismusforschung aus, dass dieser systemisch ist und vor allem individuelle Reflexionsprozesse im Sinne eines „kritischen Weißseins“ in der Mehrheitsgesellschaft braucht. Das Freund*innenbuch lädt zu dieser Selbstreflektion ein und stößt Denkprozesse an. Die bisherigen Auswertungen Freund*innenbuch zeigen, dass sich die Befragten in sehr unterschiedlichen Phasen des Umgangs mit Rassismus befinden: Dominant sind vor allem die Phasen vier „Schuld“ und fünf „Anerkennung“. Letztlich nahm die große Mehrheit der Befragten das Freund*innenbuch als persönliche Bereicherung wahr. Das von der Autorin und Künstlerin erstellte Freund*innenbuch wurde als Kunstobjekt ausgestellt. Besucher*innen waren eingeladen, sich einem Moment der Selbstreflektion zu nehmen und die leeren Seiten des ausliegenden Buches selbst auszufüllen. Die Künstlerin übersetzt die Ergebnisse ihrer Forschung in ein künstlerisches Medium und erstellte einen Comic, in welchem sie selbst den Prozess ihrer Forschung als Comicfigur durchläuft.

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Wie fühlt es sich an, die zweite Generation einer Einwandererfamilie zu sein? Welche Unterschiede bestehen zwischen den Generationen? Die Forschungsarbeit von Marina Sedda und Lena Maria Castrup de Arnedo griff diese Fragen auf, welche sich immer wieder in Einwandererfamilien in Deutschland stellen. Die Autorinnen baten dafür zwei Einwandererfamilien, ins vertraute familiäre Gespräch zu gehen und sich darüber auszutauschen, welche Erfahrungen drei Generationen in Deutschland machten und machen. Im Ergebnis zeichnen Marina Sedda und Lena Maria Castrup de Arnedo Mini-Familienporträts, welche die intergenerationalen Unterschiede in der Wahrnehmung von erfahrener Akzeptanz und Ausgrenzung im deutschen Stadtalltag sehr deutlich machen. Es ist ein Bericht über verschiedene Kulturen und deren Co-Existenz in kulturellen Sicherheitsräumen sowie Erfahrungen von Alltagsrassismus der verschiedenen Generationen. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist ein Film. Er zeigt authentische Ausschnitte aus einem der zwei Familiengespräche, welches sich im Anschluss an das eigentliche Interview mit den Forscherinnen entspann. Zu sehen ist das Wohnzimmer der befragten Familie, die anonym bleibt. Der Raum spiegelt die gewohnte, vertraute Atmosphäre wider. Die Familiendiskussion verläuft ohne Eingriff der Forscherinnen. Zu Beginn eher verhalten, bringt sie im Verlauf die wesentlichen Wahrnehmungsunterschiede prägnant auf den Punkt. Es lohnt sich, dem intimen Gespräch zu folgen und eigene, selbstkritische Schlüsse zu ziehen.

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Welche Rolle spielt der Kiosk im Alltag? Welche räumlichen und kulturellen Potenziale birgt er für die Menschen und ihren Stadtteil? Katharina Stommel ging diesen Fragen in ihrem Forschungs- und Kunstprojekt „Der Kiosk als Ort des interkulturellen Austauschs“ nach. Der Arbeit liegt ein wissenschaftliches Literaturstudium zugrunde, welches den Forschungsstand zu migrantischen Ökonomien in deutschen Städten umreißt und die Entwicklungsgeschichte des Kiosks nachzeichnet. Darauf aufbauend führte Katharina Stommel eine ethnographisch geprägte Einzelfallstudie zum Kölner „Kiosk One“ durch, welche die systematische Beobachtung des Außen- und Innenraumes der Verkaufsfläche, einschließlich des Sortiments, der Einrichtung und Geräusche, sowie ein Interview mit dem Betreiber umfasste. Es entstand ein szenisch eindrucksvoller, kurzer Dokumentarfilm. Das Video zeigt das Inventar, die Produktvielfalt und die räumliche Organisation des Kiosk, während der Kiosk Besitzer das Vorgefundene in seinen vielfältigen Bedeutungsebenen erläutert. Das Fazit von Forschungs- und Kunstprojekt? Ja, der Kiosk ist ein wertvoller, kleiner Ort des interkulturellen Austausches und der Begegnung im Stadtteil, dem wir definitiv mehr Aufmerksamkeit widmen sollten.

Auseinandersetzung der Studierenden der Juniorprofessur Sicherung Kulturellen Erbes, RWTH Aachen, mit dem Fresh A.I.R. Jahrgang #6

Mohammad Nabeel Jamal thematisiert in seinem Forschungs- und Kunstprojekt die Wahrnehmung von Geräuschen im Wohn- und Stadtraum und deren biografische sowie kulturell konnotierten Zusammenhänge. Eine Literaturrecherche brachte den Begriff der „aural architecture“ hervor. Dieser behandelt die Wahrnehmung von Geräuschen in Räumen und deren Auswirkungen auf den Hörer. Mittels eines standardisierten Fragebogens mit offenen und geschlossenen Fragen sowie anhand von Tonstudien ging Mohammad Nabeel Jamal der Frage nach, welche Geräusche im Alltag für internationale Studierende an der RWTH Aachen Vertrautheit und Wohlbefinden bzw. Fremdheit und Störung signalisieren. Das ausgestellte Kunstprojekt ist ein Video, dass die Soundscape-Erfahrungen der befragten internationalen Studierenden widerspiegelt und mit ihren selbst, in der jeweiligen Muttersprache eingesprochenen Aussagen verbindet. Die Geräusche gehören zum Befragten und erinnern an dessen beschriebene Wahrnehmungen. Parallel wird von den individuellen Verknüpfungen dazu gesprochen.