ONE WALL von Apl315 | Fresh A.I.R.
- ARTIST IN RESIDENCE
- Fresh A:I:R
- Fresh A.I.R. #8
- ONE WALL
- Oktober 17, 2023
Writings on the Wall. Über die Wandgestaltung von Apl315
Mit der neuesten Wandgestaltung im Prenzlauer Berg an der Ecke Stargarder Straße/Schönhauser Allee wurde nun schon die zweite One Wall eines Fresh A.I.R. Stipendiaten umgesetzt. Der ukrainische Künstler Apl315 schuf innerhalb einer Woche eine Art großformatiges Wimmelbild, das Wandkritzeleien und -notizen aus seiner Heimatstadt Odesa mit seiner temporären Heimat Berlin auf mehreren Ebenen miteinander verbindet.
Das Mural ist eine Hommage an die geheimnisvolle Vergangenheit der sogenannten Odesa-Katakomben, ein etwa 2.500 Kilometer langes, im 19. Jahrhundert angelegtes Tunnelsystem, das sich unterhalb von Odesa bis weit in die Außenbezirke der ukrainischen Millionenstadt am Schwarzen Meer erstreckt. Es entstand durch den im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnenden Abbau von pontischem, vorwiegend für den Wohnungsbau verwendeten Kalkstein, der bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt wurde (Yavorska et al. (2018)).
Die Grundlage des Wandbildes im Prenzlauer Berg bilden Zeichnungen und Inschriften aus der Zeit der Katakomben zwischen 1840 und 1917, sie sind somit teilweise über 100 Jahre alt. Apl315 hat in den Jahren vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor Ort eine umfangreiche Recherche durchgeführt und die überwiegend mit Kohle gezeichneten Bilder und Inschriften akribisch fotodokumentiert. Sie stammen hauptsächlich von Menschen, die in den Sandsteinmienen arbeiteten und weisen vorwiegend einen naiven Stil auf.
Auf den Wänden haben Arbeiter und Soldaten arbeitsrelevante Notizen und mathematische Gleichungen neben Fabelwesen, Handabdrücke neben profanen figürlichen Zeichnungen aus der damaligen Alltagswelt der Arbeitenden sowie humorvolle Abbildungen, die sicher zur allgemeinen Erheiterung in der Pause beigetragen haben, hinterlassen. Im Sinne der Appropriation Art hat Apl315 auf der Grundlage jener bildtextlichen Hinterlassenschaften eine wimmelbildartige Collage erschaffen, die zum Entdecken einlädt. Der Künstler knüpft damit auch an die Historie des Bezirks Prenzlauer Berg als ehemaliges Arbeiterviertel an. Das rußige Schwarz der Kohlezeichnungen kombiniert er mit einem Farbton, der zum einen auf die mit gelbem Backstein gebauten Brauerei- und Industriegebäude im Viertel verweist und zum anderen die Farbe der älteren U-Bahnzüge der Baureihe A3 aufgreift, die man noch hin und wieder über das Viadukt der Linie U2 entlang der Schönhauser Allee fahren sieht.
„Historical Graffiti“ als visuelle Quellen der Alltagskultur
Die akribische Erforschung der „Katakomben“ von Odesa begann 1846 mit der Arbeit des finnischen Paläontologen Alexander von Nordmann. Nordmann und seine Kolleg*innen aus anderen Wissenschaftsbereichen konzentrierten sich auf die Kartierung und geologische Erforschung. Für Althistoriker*innen, Ethnolog*innen oder Philolog*innen gelten diese sogenannten Historical Graffiti als wertvolle Quellen: In der römischen Stadt Virunum ließ sich beispielsweise dank der Graffiti die Aufzeichnung von Geschäftsvorgängen rekonstruieren (Gostencnik 2018) und aus Pompeji sind neben Grüßen, selbstreflexiven Witzen und Anwesenheitsnotizen auch erotische Graffiti bekannt, die Aufschluss über die Bedingungen der damaligen Sexarbeit geben (Weeber (2019), Lohmann (2018)).
Das Mural von Apl315 – Gedenken und Mahnung
Die Wandgestaltung an der Ecke Stargarder Straße/Schönhauser Allee beruht auf einer Vielzahl der fotografisch dokumentierten Zeichnungen aus Odesa. Apl315 wählte konkrete Zeichnungen aus, die er im Wandbild in neuen Konstellationen und Überlagerungen präsentiert. Historisch betrachtet ist die Aneignung, respektive das sich aneignende Nachvollziehen, eine Strategie des künstlerischen Schaffens mit dem Ziel, die kopierten Vorbilder in ihrer künstlerischen Qualität zu übertreffen.
Die Aneignung, wie Apl315 sie betreibt, hat mit dieser historischen Strategie jedoch wenig gemein. Apl315 ist der auswählende und in Besitz nehmende Künstler, der sich durch die Gestaltung des Wandbildes nicht unmittelbar selbst ausdrückt. Es lässt sich hier eine gewisse Faszination detektieren: Die Freude des Künstlers an den vielfältigen kreativen Ausdrucksformen und seine Zuversicht, dass die Zeichnungen eine eigene Sprache sprechen. Damit werden sie zu Erinnerungsträgern in unserem gegenwärtigen Weltgeschehen. Diese scheinbar unbedeutenden Zeugnisse geben auf unmittelbare Weise Einblick in die Alltagswelt der Zeichnenden. An ihnen lässt sich ablesen, welchen Zweck die unterirdischen Gänge und Räume über die Zeit erfüllten: Von Arbeits- und Lagerräumen, über Zufluchtsorte in den Kriegsjahren und Ausflugsorte für Abenteurer*innen bis hin zu einem musealen Raum. Das Mural steht somit als Mahnmal für die durch Krieg bereits teilweise zerstörten Kulturstätten in der Ukraine.
Text: Janine Arndt, Künstlerische Leitung Fresh A.I.R.
Quellen
- Gostencnik, Kordula: Die Händlergraffiti aus der frührömischen Stadt »Alt-Virunum« auf dem Magdalensberg in Kärnten. In: Polly Lohmann (Hg.), Historische Graffiti als Quellen. Methoden und Perspektiven eines jungen Forschungsbereichs. Beiträge Konferenz LMU München 2017 (Stuttgart 2018), 51-74
- Lohmann, Polly. Graffiti als Interaktionsform: Geritzte Inschriften in den Wohnhäusern Pompejis, Berlin, Boston: De Gruyter, 2018. https://doi.org/10.1515/9783110574289
- Weeber, Karl-Wilhelm: Botschaften aus dem Alten Rom: Die besten Graffiti der Antike, Herder, Freiburg 2019
- Yavorska, V. Y.; Sych, V. A.; Kolomiyets, K. V.; Shashero, A. M.: Odessa catacombs as an integral part of the tourist image of the Black Sea region. In: Dniporp. Univer. Bulletin, Geology, Geography, 2018, 26(1), 219–226